Die Internationale Gemeinschaft. Eine Gebrauchsanweisung

Angela Merkel, Barack Obama und David Cameron beim G8-Gipfel 2010
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Angela Merkel, Barack Obama und David Cameron beim G8-Gipfel 2010

Sie hat zwar noch keinen Wikipedia-Artikel, ist aber trotzdem in aller Munde: die internationale Staatengemeinschaft. In seiner Kolumne wirft der Schriftsteller Jochen Schimmang einen kritischen Blick auf sie.

Ein Gespenst geht um, nicht nur in Europa: das Gespenst der internationalen Gemeinschaft. Anders als die ebenfalls sehr beliebte Zivilgesellschaft hat sie es bemerkenswerterweise jedoch noch nicht zu einem eigenen Wikipedia-Eintrag gebracht, also noch keine lexikalische Würde erlangt. Sie taucht hier nur im Zusammenhang mit dem Stichwort Völkerrecht auf, und dort vor allem gekoppelt mit einem anderen Begriff, der von der internationalen Gemeinschaft kaum zu trennen ist, nämlich dem der humanitären Intervention. Anders gesagt: Wo von der internationalen Gemeinschaft die Rede ist, da geht es fast immer um Krieg.

Die internationale Gemeinschaft dürfte, wenn die Erinnerung nicht trügt, als Begriff erstmals in den neunziger Jahren aufgetaucht sein, also nach dem Ende des Großen Kalten Krieges und mit dem Beginn der vielen kleinen heißen Kriege. Sie ist ein Konstrukt, bei man zunächst einmal nie genau weiß, wer gerade dazugehört. Wladimir Putin etwa schien eine Weile dazuzugehören, und er hat angeboten, im Kampf gegen den IS auch weiter dazuzugehören, aber seit einem Jahr ist er doch eher ein Problem für die internationale Gemeinschaft. Der türkische Präsident Erdogan in seinem neuen Prunkpalast gehört ein bisschen zur internationalen Gemeinschaft, weil er aus geostrategischen Gründen dringend dort gebraucht wird, aber so richtig natürlich nicht. Verschärft gilt das für das saudische Herrscherhaus und andere autokratische Regime in der Region. Ein ganz schwieriger Fall ist seit einiger Zeit der syrische Präsident Assad, der natürlich in der internationalen Gemeinschaft bisher nichts zu suchen hatte, nach dem unerbittlichen Vormarsch der IS-Milizen aber jetzt ebenfalls gebraucht werden könnte.

Wir lernen hieraus zunächst: Die internationale Gemeinschaft ist keineswegs die Gemeinschaft aller Länder und Staaten, keineswegs tout le monde, sondern in ihrem Kern fest geopolitisch verankert. Als ihre festen Mitglieder könnte man die Vereinigten Staaten, Australien, Kanada, Neuseeland (also, mit Großbritannien zusammen, die five eyes),  Japan, Südkorea, die Staaten der EU und einige europäische Staaten, die keine EU-Mitglieder sind (etwa Norwegen und die Schweiz), benennen. Territorial betrachtet, ist die internationale Gemeinschaft also gar nicht so groß. Schwierig wird es schon mit den sogenannten Schwellenländern, die oft nicht so wollen wie die internationale Gemeinschaft, selbst die lateinamerikanischen nicht. Ob sie dazugehören, entscheidet sich von Fall zu Fall.

Entscheidung von Fall zu Fall

Man sieht, dass die internationale Gemeinschaft durchaus die Eigenschaften eines Chamäleons hat und sich auf unterschiedlichste Art und Weise verfärben kann. Ein ganz schwieriger Fall ist natürlich China, aus zweierlei Gründen: als wirtschaftlicher Konkurrent und als Land, das die Werte der internationalen Gemeinschaft nicht teilt. Denn einen Wertekanon hat sie. An dessen oberster Stelle steht die Achtung der Menschenrechte, deren universelle Geltung als gesetzt gilt (was eben China z.B. bestreitet) und deren Verletzung der Anlass für humanitäre Interventionen sein kann. Auch das ist allerdings eine Entscheidung von Fall zu Fall; nicht überall, wo Menschenrechte verletzt werden, interveniert die internationale Gemeinschaft. Es tritt hier auch der merkwürdige Fall ein, dass selbst Kernstaaten der internationalen Gemeinschaft unter bestimmten Aspekten nicht mehr zu ihr gehören, wie das Beispiel USA/Guantánamo zeigt.

Eine der frühesten Interventionen seit dem Aufkommen des Begriffs fand in den neunziger Jahren auf (und über) dem Territorium des zerfallenen Landes Jugoslawien statt. Der deutsche Außenminister (1998 – 2005) Joseph Fischer rechtfertigte diese Intervention unter anderem mit dem Argument: „Ich habe nicht nur gelernt: Nie wieder Krieg. Ich habe auch gelernt: Nie wieder Auschwitz.“ Auch andere, vor allem die französischen Intellektuellen, rechtfertigten die Bombardierungen Serbiens 1999 mit dem Rekurs auf die Befreiung Europas vom Nationalsozialismus durch die alliierten Truppen. Diese Analogie ist fragwürdig. So unzweifelhaft – und dankenswert! – der Vormarsch der amerikanischen, britischen und russischen Truppen nämlich eine solche Befreiung darstellte, war sein Kern doch keineswegs ein humanitäres Eingreifen, sondern ein klassischer Krieg gegen einen anfangs übermächtigen, später militärisch erschöpften Gegner.

Nun existiert ja der Streit über die universelle Geltung der Menschenrechte (und im Gefolge über die Demokratie als letztlich einzig legitime Staatsform), schon seit langer Zeit. Der furchtbare Jurist Carl Schmitt, der gleichwohl um ein Vielfaches klüger war als zum Beispiel der furchtbare Marinerichter Hans Filbinger, ist unter anderem für sein Diktum bekannt geworden: „Wer Menschheit sagt, will betrügen.“ Dem muss man nicht folgen; man könnte aber sagen: Wer Menschheit sagt, geht von der einen Welt aus, die sich zwar ökonomisch mehr und mehr verwirklichen mag – besonders, wenn die internationale Gemeinschaft erst einmal TTIP durchgedrückt und umgesetzt und ihre politische Gewalt vollends an die Ökonomie abgegeben hat –, die sich aber politisch um so weniger abzeichnet, je länger die Illusionen von 1989 verflogen sind. Wo kein Universum, könnte man also sagen, sondern ein Pluriversum (ebenfalls ein Schmittscher Begriff), da auch keine universellen Geltungen.

Der Streit um Universalismus oder nicht kann weder hier noch wahrscheinlich anderswo entschieden werden. Man kann z.B. darüber streiten, ob das Prinzip der Souveränität, das Carl Schmitt heilig war, heute nicht etwas veraltet ist. Auch, wenn es aufgehoben wäre, hätten wir jedoch nicht die eine Welt, die wohl immer ein schon etwas ranziger Werbeslogan der Firma Benetton bleiben wird. 

Klassischer Krieg

Für politisches Handeln waren aber philosophische Grundsatzfragen noch nie ausschlaggebend. Der Kampf gegen den IS, für den man dann auch so glühende Menschenrechtskämpfer wie Assad, Erdogan und das saudiarabische Königshaus braucht, hat mit einer humanitären Intervention nichts zu tun. Er ist auch primär kein Krieg gegen den Terrorismus, sondern richtet sich gegen eine Bewegung, die, wie der Name schon sagt, eigene Staatlichkeit anstrebt (siehe dazu Bernd Rheinberg, Vom Terror zum Kalifat, Blätter für deutsche und internationale Politik, September 2014). Es handelt sich also um einen klassischen Krieg, bei dem es um Territorien und um die staatliche Ordnung in einem bestimmten Raum geht.

Betrachtet man die „festen“ Mitglieder der internationalen Gemeinschaft, zu denen Deutschland übrigens immer und ohne Ausnahme gehört, so teilen diese in der Tat bestimmte gemeinsame Werte, oder, um es etwas tiefer zu hängen, eine bestimmte Lebensweise, so sehr sich diese im Einzelnen dann auch ausdifferenzieren mag, die sich historisch entwickelt hat und nicht in allen Teilen der Welt zu finden ist. Der Kampf gegen den IS – zum Beispiel – ist deshalb keine humanitäre Intervention, sondern der –  hoffentlich von Erfolg gekrönte – Versuch, diese Lebensweise zu retten, oder, wie es der große amerikanische Philosoph Richard Rorty einst ausdrückte, das zu verteidigen, was wir lieben. Mehr ist das nicht, und das ist sehr viel.